Eine kleine Geschichte
Diese Geschichte stammt von Herodot und ist
etwa 2400 Jahre alt. Sie handelt von König Ramses III, der etwa 1200
Jahre vor Christus lebte und ist meiner Meinung nach einesteils amüsant
und auch in vielerlei Hinsicht zeitlos. Ich habe die Geschichte irgendwo
gehört und versuche sie nachzuerzählen.
Man sagte, König Ramses III. besäße
große Silberschätze und zwar von solchem Ausmaße, daß
keiner der Prinzen, seiner Thronfolger, je seinen Wohlstand würde
erreichen oder gar übertreffen können. Um sein Geld sicher zu
verwahren, kam er auf die Idee, eine große Kammer aus geschlagenem
Stein bauen zu lassen, die in die Außenwand seines Palastes einzulassen
sei. Der Baumeister hatte es auf die Schätze abgesehen und entwarf
eine Konstruktion, bei der ein Stein in die Mauer eingelassen wird, der
von einem oder zwei Männern bewegt werden kann.
Die Schatzkammer wurde fertiggestellt und
das Geld des Königs darin verwahrt
Die Zeit verging, und der Baumeister wurde
krank; als er sein Ende nahen sah, rief er seine beiden Söhne zu sich
und vertraute ihnen seine Erfindung in der königlichen Schatzkammer
an. Er sagte ihnen, er habe es für sie getan, damit sie weiterhin
ein gutes Leben führen könnten. Dann erklärte er den beiden,
wie der Stein herauszuholen sei, gab ihnen die genauen Maße und beschwor
sie, das Geheimnis für sich zu behalten, auf daß sie auf Lebenszeit
die Rechnungsprüfer des königlichen Schatzamtes sein würden.
Kurze Zeit später verstarb der Vater, und die Söhne zögerten
nicht lange und machten sich an die Arbeit. Eines Nachts suchten sie den
Palast auf, fanden den Stein, den sie mit Leichtigkeit herauslösten,
und plünderten einen Teil des Schatzes.
Als der König das nächste Mal den
Raum aufsuchte, war er erschüttert darüber, daß die Gefäße,
in denen das Geld verwahrt wurde, nicht mehr voll waren. Er wußte
jedoch nicht, wen er beschuldigen konnte, denn die Siegel waren unversehrt
und der Raum sicher verschlossen. Doch von Besuch zu Besuch fand er weniger
Geld in der Schatzkammer vor. Die Diebe hörten nicht auf, den Schatz
weiter zu plündern.
Schließlich ordnete der König an,
Fallen neben den Gefäßen aufzustellen, die das Geld enthielten.
So geschah es. Als die Diebe das nächste Mal zur Schatzkammer kamen
und einer von ihnen durch die Öffnung Zutritt erlangte und sich direkt
an die Gefäße machen wollte, fand dieser sich plötzlich
in einer der Fallen gefangen. Ihm wurde sofort klar, daß er verloren
war. Er rief seinen Bruder zu sich, sagte ihm, was geschehen war, und wies
ihn an, so schnell wie möglich hereinzukommen und ihm den Kopf abzuschneiden.
So könne man ihn nicht identifizieren, wenn man seine Leiche fände,
denn sonst wären beide ruiniert. Der andere befand diesen Rat für
gut und ließ sich überreden, ihn zu befolgen. Dann steckte er
den Stein an die richtige Stelle zurück und ging mit dem Kopf seines
Bruders nach Hause.
Bei Tagesanbruch kam der König in den
Raum und staunte nicht schlecht, als er die enthauptete Leiche des Diebes
in der Falle vorfand, ohne daß das Gebäude beschädigt worden
war und kein Ein- oder Ausgang zu sehen war. In seiner Verblüffung
befahl er, den Leichnam an der Mauer des Palastes aufzuhängen und
eine Wache davor abzustellen, die den Befehl hatte, jede trauernde oder
weinende Person in der Nähe des Palastes sofort festnehmen und zu
ihm bringen zu lassen. Als die Mutter davon erfuhr, war sie schwer getroffen.
Sie sprach mit ihrem verbliebenen Sohn und beschwor ihn, einen Plan zu
schmieden, um den Leichnam irgendwie zurückzubekommen. Sie drohte
ihm an, selbst zum König zu gehen und ihn als den Dieb anzuzeigen,
sollte er sich nicht darum kümmern. Der
Sohn tat sein Bestes, die Mutter davon zu überzeugen, die Sache ruhen
zu lassen, doch es nutzte nichts. Er mußte sich ihrer Hartnäckigkeit
beugen und entwarf folgenden Plan: Er füllte einige Schläuche
mit Wein und lud sie auf Esel, die er vor sich her trieb, bis er zu dem
Palast kam, wo die Wachen auf den Leichnam aufpaßten. Dort zog er
zwei oder drei Schläuche an sich heran und entknotete die Hälse,
die an den Eseln herunterbaumelten. Der Wein begann zu fließen.
Daraufhin fing er an, so laut zu schreien
wie er konnte, scheinbar ohne zu wissen, welchem Esel er sich zuerst zuwenden
müsse. Als die Wächter den Wein fließen sahen, rannte einer
nach dem anderen auf die Straße, um die Gelegenheit zu nutzen, den
Wein mit irgendwelchen Gefäßen aufzufangen. Der Treiber gab
vor, wütend zu sein, und überhäufte sie mit Flüchen,
woraufhin die Wächter sich bemühten, ihn zu beruhigen. Schließlich
ließ er vom Schimpfen ab und schien seine gute Laune wiedergefunden
zu haben. Er führte seine Esel an die Seite der Straße und machte
sich daran, die Last wieder in Ordnung zu bringen. Während er mit
den Wächtern plauderte, gelang es einem der Wächter, ihn zu erheitern
und sogar zum Lachen zu bringen, woraufhin er ihm einen Schlauch Wein schenkte.
Nun änderten sie ihre Meinung und setzten sich nieder, um sich an
Ort und Stelle zu betrinken und drängten darauf, daß er ihnen
Gesellschaft leistete und mit ihnen tränke. Der Mann war leicht überredet
und blieb.
Das Trinken ging immer weiter, und es wurde
immer freundschaftlicher, und so gab er ihnen noch einen Schlauch Wein,
den sie so reichlich genossen, daß sie von der Wirkung des Alkohols
schließlich schläfrig wurden und auf der Stelle einschliefen.
Der Dieb wartete bis tief in die Nacht und holte dann den Leichnam seines
Bruders herunter; dann schnitt er den Wächtern zum Spott die rechte
Seite der Bärte ab und ließ sie derart verunstaltet liegen.
Den Leichnam seines Bruder legte er auf einen Esel und brachte ihn heim
zu seiner Mutter, womit er ihrem Willen entsprochen hatte.
Der König war äußerst verärgert,
als ihm zu Ohren kam, daß der Leichnam des Diebes gestohlen worden
war. Er wollte den Mann erwischen, der ihn vorgeführt hatte, koste
es, was es wolle, und überlegte, einen Köder zu legen, was unglaublich
klingen mag. Der König verkündete, dem Mann die Hand seiner Tochter
zu versprechen, der ihr die beste Geschichte seiner listigsten und seiner
schlimmsten Tat erzählte. Sollte ihr jemand die Geschichte des Diebes
erzählen, so solle sie ihn festhalten und nicht fortkommen lassen.
Die Tochter folgte dem Wunsch ihres Vaters,
woraufhin der Dieb, der die Absicht des Königs längst durchschaut
hatte, das Verlangen verspürte, ihn in seiner List und Tücke
noch zu übertreffen. Deswegen dachte er sich folgenden Plan aus: Er
beschaffte sich den Leichnam eines kürzlich verstorbenen Mannes, schnitt
ihm einen Arm von der Schulter ab, verbarg diesen unter seinem Mantel und
machte sich auf den Weg zur Tochter des Königs. Als sie ihm nun die
gleiche Frage stellte wie all den anderen, gab er zur Antwort, das Schlimmste
was er je getan habe, sei gewesen, den Kopf seines Bruders, der in des
Königs Schatzkammer in eine Falle geraten war, abzuschneiden, und
das Listigste, die Wachen betrunken zu machen und dann den Leichnam seines
Bruder mitgenommen zu haben. Während er sprach, versuchte die Prinzessin
ihn festzuhalten, doch der Dieb nutzte die Gunst der Dunkelheit, und reichte
ihr die Hand des Toten. Da sie vermeinte, seine wirkliche Hand zu halten,
griff sie zu und hielt sie fest. Der Dieb ließ sie gewähren
und entkam durch die Tür. Als der König nun vom erneuten Erfolg
dieses Mannes erfuhr, bewunderte er dessen Klugheit und Kühnheit und
sandte Boten in alle Städte seines Reiches, um die Straffreiheit für
den Dieb zu verkünden und ihm eine reiche Belohnung in Aussicht zu
stellen, wenn er zu ihm käme und sich ihm zu erkennen gebe. Der Dieb
nahm den König beim Wort und war so kühn, sich ihm vorzustellen.
Dafür bewunderte ihn der König sehr. Er nannte ihn einen der
weisesten Männer des Landes und versprach ihm die Hand seiner Tochter.
»Die Ägypter,« so sprach er, »haben den Rest der
Welt stets in Weisheit übertroffen, dieser Mann aber war noch weiser
als alle anderen Ägypter.«
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